Es weiß wohl niemand exakt zu sagen, wann der erste Landmann, Händler, Handwerker, die erste Marktfrau eine(n) Trage(korb) auf den Rücken band, um so mehr Gewicht und diverse Dinge über längere Wege befördern zu können, als dies in Handtragekörben und unhandlichen Packen möglich war.

Der Hinweis auf Kiepenkerle überhaupt ist in dem 1474 erschienenen "Buch zum Lobe Westphalens" des Kartäusermönchs Werner Rolevinck zu finden. Darin beschreibt er, wie junge Burschen mit ihren runden Tragekörben, "Kiepen nennt man sie hierzulande", durch das Dorf von einem Bauernhof zum anderen wandern.

Je nach hoch- oder niederdeutscher Mundart wurden die Rückentragen Kiepe, Kraxe, Hucke, Räpp genannt. In den Landstrichen, aus denen vor allem Lebensmittel, land- und forstwirtschaftliche Produkte, in die Städte getragen wurden, waren die Kiepen aus Weidenruten geflochten. Sie sind nicht nur leichter als die aus Holzscheiten gefertigten, sie geben der Luft Zugang zu den Frischwaren. Gegen Regen und Schnee wurden die Waren durch ein über die Kiepe gespanntes Fell, Leder oder Wachstuch geschützt.

Es ist nicht auszuschließen, daß der durch den Überseehandel nach Europa gekommene Pfeffer anfänglich der Hauptartikel dieser Kaufleute gewesen ist. Später werden sie ihr Sortiment ausgeweitet haben, so daß der sogenannte Pfefferkasten auch Aufnehmer, Schuhbänder, Knöpfe, Pfeifen, Sachen zum Putzen und Geschirrtücher usw. enthielt.

Ein Händler in Groningen trug bei seiner Kundschaft folgendes Gedicht vor: "Verkaufe Bleistifte und Holzkohle, biete Kraut und Muskatnüsse ohne Löcher an. Sind noch genug Pfeffer und Gewürznelken im Haus? Verkaufe auch Zimt gemahlen oder ganz, Tinte, die nicht stinkt, und auch Kaffee oder Tee, zu dem leckere Schokolade.

Auch nach dem allmählichen Zerfall der Hanse, dem mittelalterlichen Zusammenschluß von Händlern und Kaufleuten, wußten diese noch Mittel und Wege mit ausländischen Partnern ins Geschäft zu kommen. So wurde insbesondere Leinen aus Minden-Ravensberg, dem Osnabrücker-, Tecklenburger- und Münsterland auf den alten Handelswegen nordwärts und in die Niederlande gebracht, und von den Nordseehäfen ging es weiter in alle Welt. Der Beginn dieses Handels liegt in der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg. Dabei existieren die ältesten schriftlichen Unterlagen über Leinenhändler aus dem Tecklenburger Land, der Gegend von Recke, Hopsten, Mettingen, Riesenbeck und Schapen, den sogenannten "Tödden", aus der Zeit um 1660.

Seit dieser Zeit stehen die Kiepenkerle und Tödden für den westfälische Gewerbefleiß. Bedeutende Handlesfirmen, die bis heute bestehen, führen ihre Geschichte zurück auf die Kiepenkerle und Packenträger, zum Beispiel Brenninkmeyer, Hettlage, Boecker, Peek und Cloppenburg. – Wenn ein Kiepenkerl es zu etwas Geld gebracht hatte, schaffte er sich Pferd und Wagen an, oder etwas kleiner, einen großen Hund, den er vor einen kleinen Karren spannte. Damit war er kein "Kiepenkerl" mehr, sondern ein Händler.

Die "Tödden " wurden nach zwei großen Gruppen unterschieden, und zwar nach den Zielländern ihres Handels, den "Niederländern" (Holland) und "Oberländern" (Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Pommern und weiter östlich).

Das Wort "Tödden" wird von dem Plattdeutschen toddeln, engl. to toddle = zotteln, (herum-)ziehen, abgeleitet.

Die Tödden, die in der Regel Kötter und Heuerlinge waren, zogen mit ihren Leinenrollen in einem Packsack, dem "Riepert", oder auch einer Kiepe auf dem Rücken zu ihren Kunden.

Neben den Leinenhändlern gab es noch andere Gruppen von Kiepenkerlen. Eine große Gruppe waren im Münsterland, dem traditionellen "Pottland", mit den Töpfereien in Ochtrup; Stadtlohn, Vreden, Schermbeck, Telgte und Warendorf, die "Pöttker", die über ihre eigenen, abseitigen Pfade die Waren zu den Kunden brachten.

 

Vom anderen Ende Westfalens, nämlich aus dem Sauerland kamen die sauerländischen "Nürnberger", die in den Dörfern Alt- und Neuastenberg, Nordenau, Lenneplätze und Oberkirchen Löffel, Näpfe, Schüsseln und Butterformen aus Holz in Heimarbeit herstellten und diese weit über Land, sogar in die Niederlande und bis nach Skandinavien verkauften. Daneben gab es im Sauerland noch die Willinger Linnenkerls, die Winterberger Kastenmänner und die Siedinghausener Sensenmänner, die mit dem Handel von Sensen und anderen Schneidewerkzeugen wesentlich mehr als die übrigen Kiepenkerle verdienten und daher mit einer gewissen Überheblichkeit auf ihre Händlerkollegen herabblickten.

Neben diesen speziellen Händlern gab es noch die sogenannten Einhundertundeins-Männer, die besonders im Münsterland, aber auch in anderen Gegenden Westfalens vorkamen. Ihr Name war dadurch entstanden, daß sie eine Vielzahl von Dingen des täglichen Bedarfs mit sich führten, so Stopf- und Strickgarn, Nähutensilien, Knöpfe, Scheren, Band, Stoffe, Webwaren aber auch Siebe, Messer, Gabeln, Löffel, Tassen und Teller aus Blech und vieles andere mehr. Für die angebotenen Waren nahmen sie entweder Geld oder tauschten sie gegen landwirtschaftliche Produkte wie Butter, Eier, Schinken, Speck aber auch Geflügel und Kleinvieh. Sie verkauften "für en Appel und en Ei".

In einer Schrift aus dem Jahr 1715 wird der Inhalt einer Kiepe wie folgt beschrieben: "Almanach, Zündhölzer, Kristallbrillen, Tupfer, die nach Moschus riechen, Schnurrbartbürsten, Zahnpuder, Fläschchen mit Kölnisch Wasser, Schnupftabakdosen und Siegellack, englische Messer, Bleistifte, Notizbücher, hübsche Elfenbeinzähne für eine zahnlose Magd, Parfümtütchen, Mausefallen, Jasminölflaschen.

Kiepenkerle und –frauen übernahmen aber auch andere Dienste: Sie gaben Nachrichten an Verwandte, Kollegen, an Zünfte und Gilden und an interessierte Käufer weiter. und durchs Weitererzählen dessen, was sie unterwegs gesehen und gehört hatten, haben sie manchen Handel angebahnt, Verbindungen hergestellt, die zur Vermittlung von Lehrstellen, Arbeitsplätzen und auch Hochzeiten führten.

Als "Tarif" für eine erfolgreiche Ehevermittlung war, je nach Landesbrauch, "'ne schwatte Bückse" zu erlangen; oder es hieß "De hätt sick en Haut verdennt!" auch als Hochzeitsbitter waren die Kiepenkerle gefragt, denn viele konnten das "Sprüeckskes maken" von Berufswegen perfekt: "Met Küern moss du't häbben!" hieß es.

Kinder und Erwachsene lauschten gern, wenn der Kiepenkerl wahre Geschichten und humorvoll gestaltete Dönkes erzählte, die altbekannten Volkslieder und auch mal die neuen Gassenhauer" sang.

Nun noch etwas zum "Blaukittel", der Tracht der Kiepenkerle.

Zu seinen Attributen gehören die Kiepe, die Kappe, der Knotenstock, die Holzschuhe und vor allem der Kittel.

Heute tragen die Darsteller der Kiepenkerle blaugefärbte Kittel. Aber die Farbe der Kittel war nicht schon immer blau. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts müssen wir uns diese "Arbeitskleidung" eher braun oder beige vorstellen. Erst im 2. Viertel des 19. Jahrhunderts fand der blaue Kittel von Süden her Eingang in Westfalen. Der Blaukittel wurde dann sehr schnell populär, allerdings nicht im Ostwestfälischen und Osnabrückschen, hier bevorzugte man den weißen Leinenmantel.

Erst wurde der Blaukittel als "schicke" Sonntagskleidung getragen. Über dem Kittel wurde ein rot-kattunenes Sacktuch mit den Zipfeln nach hinten geknotet.

Bald wurde der Blaukittel aber auch Arbeitskleidung.

Aber jede Mode geht einmal dem Ende zu. So berichtet Franz Jostes 1904, also vor 100 Jahren, in seinem westfälischen Trachtenbuch, das "heutzutage der Blaukittel nur noch von Hausierern, Metzgern und andren Leuten, die viel unterwegs sind, getragen wird." – Dazu gehörten zweifellos auch unsere Kiepenkerle.

Roswitha Bliese